ChatGPT und Hochbegabung: Wird jetzt alles gut?
Am 30. November 2022 veröffentlicht Sam Altman, CEO des amerikanischen Tech-Unternehmens OpenAI, einen Tweet mit dem Wortlaut: „today we launched ChatGPT. try talking with it here: chat.openai.com“. Der darauffolgende Sprint zu 1 Million Nutzer in nur fünf Tagen machte ChatGPT zu der am schnellsten wachsenden Internetanwendung aller Zeiten.
Dieser Beitrag ist erschienen im Labyrinth-Magazin der DGhK/Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind e.V., Ausgabe #152 im Mai 2023.
Zwischen KI-Schock und KI-Hype
Seit Veröffentlichung von ChatGPT überschlagen sich die Ereignisse in Bildung, Wirtschaft und Gesellschaft. Während unsere Welt vordergründig noch die gleiche zu sein scheint, erleben wir parallel eine Disruption, einen grundlegenden technologischen Wandel. Das auf künstlicher Intelligenz basierende ChatGPT schreibt, kürzt und überarbeitet Texte, macht Hausaufgaben, korrigiert Programmier-Code, besteht Jura-Examen, den Turing Test und empfiehlt sich als Effizienz-Booster für die Arbeitswelt. Die einen bangen um bald wegrationalisierte white-collar-Arbeitsplätze,
andere beruhigen, es reiche ein Kompetenzwandel, und begrüßen in einer Art Willkommenskultur den neuen Kollegen KI, der den akuten Fachkräftemangel richten wird.
KI-Anwendungen sind durchaus nichts Neues. Doch mit ChatGPT wird Künstliche Intelligenz jetzt erstmals niederschwellig und in der Breite zugänglich. Auch in technologischer Hinsicht ist ChatGPT neu: zusätzlich zu früheren Sprach-KIs, die als LLMs/Large Language Models allesamt auf Künstlichen Neuronalen Netzwerken (KNN) und auf wahrscheinlichkeitsbezogenen Textvorhersagen beruhen, wurde ChatGPT ergänzt um weitere Layer: mittels RLHF (Reinforcement Learning from Human Feedback) und einem Reward Model generiert es nun Texte, die mit hoher Wahrscheinlichkeit von Menschen als „gut“ bewertet würden. Zudem kann ChatGPT durch sogenannte Self-Attention-Mechanismen jetzt Gespräche in Form eines menschenähnlichen Dialogs führen. Im Ergebnis sehen wir beeindruckend eloquente Antworten und bei zielgenauen Anweisungen ein vielversprechendes kognitives Werkzeug.
Dürfen wir von einer Technologie, die vermutlich verändern wird, wie wir lernen, arbeiten und leben, auch erwarten, die Förderung von Begabungen auf neue Füße zu stellen? Hierzu einige Überlegungen im Kontext der schulischen Begabtenförderung.
Ändert sich jetzt unser Anspruch an Bildung?
Im besten Falle wird unser deutsches Schulsystem jetzt neu gedacht. Während zunächst die Reaktionen in der Bildungslandschaft von der Sorge um Täuschungs- und Betrugsversuche bestimmt waren, werden die neuen KI-Tools mittlerweile zum Anlass genommen für grundlegende Reflexionen über unser Bildungssystem. Im Minimalfall bedeutet dies ein Überdenken der aktuellen Prüfungskultur mit Veränderungen in Richtung neuer, anspruchsvollerer Prüfungsformate. Die KI und ihre Anwendungsmöglichkeiten haben jedoch auch das Potential, zu einem größeren Katapult zu werden: weg vom gleichgeschalteten 7-G-Lernen (alle gleichaltrigen Kinder lernen mit den gleichen Zielen und gleichen Methoden bei der gleichen Lehrkraft am gleichen Ort im gleichen Tempo die gleichen Inhalte), hin zu mehr Bildungsgerechtigkeit und individualisiertem Lernen. Denn die neuen Bildungsziele sind die 4Ks des 21. Jahrhunderts - Kommunikation, Kooperation, Kollaboration und Kreativität.
Wie also umgehen mit Sprach-KIs wie ChatGPT? Kluge Vordenker wie Prof. Christian Spannagel von der PH Heidelberg veröffentlichten hierzu schon früh klare „Rules for Tools“. Mittlerweile sind auch umfangreichere Orientierungsrahmen der Bundesministerien der Länder verfügbar. Ihr Grundtenor: KI-Tools aktiv und reflektiert im Unterricht einsetzen sowie die KI-Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler fördern. Neulich las ich von der „Geschwindigkeit der Kontinentaldrift“, mit der Änderungen in unserem hausgemachten Bildungssystem umgesetzt werden. Nimmt das System jetzt nicht an Fahrt auf, werden angesichts der KI-Informations-Asymmetrien zwischen Lehrkräften und Kindern die Letzteren das Schulsystem vor sich hertreiben.
ChatGPT als kognitives Werkzeug
Wer ChatGPT schon genutzt hat, stellt meist rasch fest: die KI hilft beim Nachdenken und aktiviert den analytischen Verstand. Es kann Quelle sein für das Verständnis von Strukturen und liefert bisher ungedachte Aspekte zu einem Thema. Mit ChatGPT kann das Lernen und Arbeiten immer mehr zu einem co-kreativen Prozess werden, in dem wir mit der KI gemeinsam in einem „hybriden Team“ zu Lösungen kommen. Wir können davon ausgehen, dass sich in der Schulre bald ein neues Verständnis über das Zusammenspiel von Lehrkräften und Maschine sowie von Lernenden und Maschine etablieren wird und das - gar nicht so neue - Konzept einer „verteilten Kognition“ selbstverständlich wird. (In seinem Buch „Cognition in the Wild“ legte Edwin Hutchins schon 1995 dar, wie „externe kognitive Hilfe“ es der menschlichen Kognition ermöglicht, sich auch über die individuellen Fähigkeiten hinaus zu entwickeln).
Prompt Engineering wird zu einem Future Skill
Zielführende Anweisungen (Prompts) an die KI zu formulieren, das „Prompt Engineering“ oder „Prompt Crafting“ wird zu einem wesentlichen Skill im beruflichen Umfeld. Dies gilt ebenso
für Schülerinnen und Schüler, ihre Pädagogen und Eltern! Wer die Anatomie eines guten Prompts beherrscht, wird die KI auch als Werkzeug und Lern-Assistenten besser nutzen können.
Grundsätzlich sollten Prompts möglichst präzise und unmissverständlich formuliert sein. Bessere Ergebnisse erzielt man, wenn wir ChatGPT zusätzlich eine Identität geben („du bist jetzt Experte für …“), nähere Informationen zum Kontext geben (ich bin in der 8. Klasse und …), die KI um eine schrittweise Bearbeitung bitten und das gewünschte Ausgabe-Format vorgeben (in einer Tabelle, in 500 Wörtern …). Auch Begriffe wie Chain-of-Thought-Prompting oder Zero-Shot-Prompting werden in Kürze in unseren Sprachgebrauch übergehen. An Anleitungen im Netz zum guten Prompting mangelt es nicht. Als hervorragende Quelle empfehle ich: promptingguide.ai. Ein reflektierter Umgang mit KI erfordert zuletzt immer auch einen Faktencheck der generierten Texte und das „Refinen“, also das interative Nachjustieren der Anweisungen.
=> P rompt-Guide für ChatGPT, MagicCake by Midjourney/Ed Haas
Was ist ein PROMPT?
Ein Prompt ist eine Anweisung, mit der man eine (Sprach-)KI dazu auffordert, eine Antwort oder die Lösung für eine Aufgabe zu generieren. Gute Prompts sind präzise und bieten bieten Kontext und Details, damit ChatGPT versteht, was erwartet wird. Je zielgenauer ein Prompt formuliert ist, desto höher die Qualität des Outputs
Wie können Lehrkräfte von der Sprach-KI profitieren?
Es klingt verheißungsvoll: Der Einsatz von textgenerierenden KIs verspricht Pädagoginnen und Pädagogen enorme Zeit- und Ressourcen-Ersparnis und Entlastung von Routineaufgaben. ChatGPT kann unterstützen bei der Unterrichtsvorbereitung, bei der Recherche und Erstellung von Unterrichtsmaterialien, beim Zusammenfassen von Texten, der Erstellung von Übungs- und Prüfungsaufgaben in unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen, bei der interaktiven Gestaltung des Unterrichts, bei der Planung von Schulprojekten und – ausflügen und beim Verfassen von Elternbriefen.
Bleibt so mehr Zeit für die individuelle Förderung, die Berücksichtigung spezieller Lernbedürfnisse und für die Begleitung eben auch besonders begabter Schülerinnen und Schüler? Einmal gefragt nach Möglichkeiten der Begabtenförderung liefert ChatGPT Anregungen, die gar nicht so schlecht klingen. Allemal sind sie ein guter Ausgangspunkt für eigene pädagogische Überlegungen und mögliche Enrichmentprojekte in vertikaler wie horizontaler Richtung. Neben Impulsen für mögliche Förderung bieten Tools wie ChatGPT durch ihre Interaktivität und Qualitäten als Lernassistenz das Potential, die Qualität von Enrichment-Maßnahmen zu erhöhen. Im Umgang mit ChatGPT kann das eigenständige, kritische Denken und die Bloom‘schen Higher Order Thinking Skills weiter gefördert werden.
=> ChatGPT Antwort zu Möglichkeiten der Begabtenförderung
Lernen über und mit KI
Laut einer repräsentativen Umfrage der Vodafone Stiftung Deutschland im März 2023 würde es eine Mehrheit der Befragten begrüßen, den Umgang mit KI-gestützten Anwendungen in den Lehrplan zu integrieren; 77% sehen dabei vor allem die Lehrkräfte in der Verantwortung, Schülerinnen und Schüler mit Kompetenzen für einen reflektierten Umgang mit KI auszustatten. Man denke an einen „KI-Führerschein“, der den bisherigen Füller-Führerschein ergänzen sollte. Oder an ein schulinternes Silo für gute Prompts, die sich für individuelle Förderung eignen und dabei helfen, den unterschiedlichen Heterogenitätsdimensionen in der Klasse Rechnung zu tragen.
Wer bereits gute Erfahrungen mit Prompts in der Begabtenförderung machen konnte oder auf der Suche nach Anregungen ist, der ist herzlich eingeladen zu einem neuen OpenLab-Projekt beizutragen: Hier entsteht gerade ein kollaborativer Ressourcen-Pool für gute und erprobte Prompts für Lehrkräfte, Eltern und Kinder: https://bit.ly/KIundHB.
Kollaborative Sammlung guter Prompts für die Begabtenförderung: Zum OpenLab-Projekt auf https://bit.ly/KIundHB
Wie können Schülerinnen und Schüler von Sprach-KIs profitieren?
Mit ChatGPT haben Kinder in erster Linie einen potentiell geduldigen Erklärer zur Seite: er kann Fragen beantworten, Wissenslücken schließen, Lösungswege in Mathe aufzeigen und Schreibunterstützung bei Aufsätzen und Präsentationen bieten. Überall dort, wo es um Sprache und Text geht, hat ChatGPT seine eindeutigen Stärken: es kürzt, korrigiert, überarbeitet, formuliert um, fasst zusammen. Als Muse, Sparrings-Partner und Lernbuddy kann es darüber hinaus eine Quelle der Inspiration bei Projekt- und Aufsatzthemen sein, kann zu berücksichtigende Aspekte ergänzen, Perspektiven hinzufügen, griffige Überschriften vorschlagen und bei der präzisen Beschreibung von Strukturen und Prozessen helfen. Ach ja, und es kann Fehler im Programmiercode finden sowie YouTube-Videos zusammenfassen. Auch in Sachen Lernmotivation helfen zum Beispiel Prompts wie: „Ich habe keine Lust auf Latein… Warum soll ich das lernen?“ Ich ermuntere, diesen Prompt einmal auszuprobieren, er liefert ganz Erstaunliches.
KI-Experten wie Prof. Doris Weßels vermuten, dass wir bald mehr moderne, KI-gestützte Lernbots und intelligente Tutoring-Systeme sehen werden. Sie werden sich die Stärken von Sprach-KIs zunutze machen und künftig sowohl an Universitäten als auch im Schulkontext den Lernenden differenziert Feedback geben können zu Aufgaben, Lernprozessen und Selbstregulation.
Doch bei aller Vorfreude ist heute schon spürbar: die Bildungsschere wird sich potentiell weiter öffnen, da Schülerinnen und Schüler aus wohlhabenden Familien die kostenpflichtigen Pro-Versionen nutzen können, während Kinder aus ärmeren Verhältnissen sich auf gratis Testversionen mit begrenztem Leistungsumfang beschränken müssen.
Nach Digital Literacy kommt jetzt AI Literacy
Was ist wahr? Welchen Quellen darf ich vertrauen? Mit Sprach-KIs, aber auch mit Bild-KIs wie Midjourney oder DALL-E, ist es heute ein Leichtes, Fake News und Deep Fakes zu generieren, die praktisch nicht mehr von „echten“ Inhalten zu unterscheiden sind. KI-Kompetenzen jetzt aufzubauen ist eine wichtige Aufgabe für Eltern und Lehrkräfte. Kinder sollten über Wissen zu Funktionsweise und Fallstricken verfügen und den verantwortungsvollen Umgang mit KI beherrschen. Da KI-Textgeneratoren zunehmend als Rechercheinstrument verwendet werden und teilweise Suchmaschinen ersetzen, sollte ihr Umgang auch Teil der Allgemeinbildung werden.
Sprach-KIs generieren fiktionale Texte anhand von Wahrscheinlichkeitsverteilungen. Ist dieses Prinzip einmal verstanden, fällt es auch leichter, Textproduktionen kritisch zu beurteilen und Unzulänglichkeiten der KI zu detektieren. Es heißt ChatGPT und nicht KnowledgeGPT. Ein Faktencheck gehört zu den eisernen Regeln. Ein „kritischer Zwilling“ muss immer mitlaufen und KI-Ausgaben auf ihre Plausibilität und Vollständigkeit hin prüfen. Durch die sehr menschenähnliche Kommunikation besteht zudem die Gefahr, Sprach-KIs als Freund wahrzunehmen. AI Literacy bedeutet folglich auch, bei der KI-Nutzung eine Art mentale Firewall zu installieren.
Kommt jetzt der Durchbruch in der Begabtenförderung?
Der Einsatz von KI-Tools wie ChatGPT kann unter anderem dabei helfen, individuell passendere und auch herausfordernde Lernerfahrungen zu gestalten. KI könnte ein Booster auch für die Hochbegabten-Förderung werden. Ist dem wirklich so?
Der große Psychologe und Begabungsforscher Franz Emanuel Weinert formulierte einmal treffend fünf Aspekte, durch die sich das Lernverhalten besonders Begabter von dem anderer unterscheidet: (1) Begabte verarbeiten neue Informationen mit größerer Geschwindigkeit, (2) sie zeichnen sich aus durch die Tiefe und Höhe des Verständnisses für neue Begriffen oder Prinzipien, (3) sie haben ausgeprägte metakognitive Fähigkeiten, (4) ihr Wissen ist in der Regel intelligent vernetzt und (5) sie verfügen meist über hohe kreative Fähigkeiten der Problemlösung.
Für die Nutzung von KI-Tools hat dies drei Implikationen: Ihre Lernbesonderheiten befähigen hochbegabte Kinder in besonderer Weise, die neuen KI-Tools reflektiert und klug für ihre Zwecke zu nutzen und das Potential dieser kognitiven Werkzeuge wirklich voll auszuschöpfen. Zugleich befriedigt die Nutzung der Tools wiederum genau jene Bedürfnisse nach Geschwindigkeit, Komplexität, Selbststeuerung und Kreativität. Im Nutzungsprozess selbst werden zugleich genau diese analytischen, kreativen und metakognitiven Stärken weiter ausgebaut!
Nach einigen Monate intensiver Testung von ChatGPT durch die Autorin ergeben sich Stand heute folgende fünf Thesen zum Einsatz von KI in der Begabtenförderung:
1. Kognitive Stärke und Wissensvorsprünge begünstigen die intelligente KI-Nutzung.
Bei ersten spielerischen Versuchen mit der KI bleiben Antworten der KI häufig hinter den Erwartungen zurück. Man ist noch nicht vertraut mit wichtigen Prompt-Techniken und verfeinert die Anweisungen nicht oder nur unzureichend. In der Folge sehen viele Lernende die Vorteile für ihren Lern- und Arbeitsprozess nicht und verwerfen ChatGPT als wenig nutzbringend.
Hochbegabte hingegen verfügen über die analytischen und kreativen Fähigkeiten, nach erster Experimentierphase rasch, zielführend und mündig mit der Sprach-KI umzugehen. Sie sagen beispielsweise: „Das Output-Format gefällt mir noch nicht.“ „Da fehlt doch noch was.“ „Ich probiere mal ‚Regenerate Response‘!“
KI kann durchaus neue Wege für die Begabtenförderung eröffnen. Ein Selbstläufer ist dies jedoch nicht. Wichtige Voraussetzung ist, begabte junge Menschen im Umgang mit der Sprach-KI auch sorgfältig zu schulen.
Wie jedes Neue, dem zunächst ein Zauber innewohnt, können auch neue Werkzeuge nach anfänglicher Euphorie ihren Reiz verlieren. Um die Vorteile für die Begabtenförderung zu erhalten, können sich Familien beispielsweise eine Beste-Prompts-Sammlung anlegen, auf die in Zeiten der Schulunlust und des Motivationstiefs zurückgegriffen werden kann. Prompts wie „Erstelle mir einen Lernplan für [Chemie, insbesondere für die elektrophile Addition]“ können immer wieder abgewandelt eingesetzt werden.
=> Hochbegabte Jura-Studentin, 21 Jahre
2. Meta-Ebenen-Denken bringt Hochbegabten Vorteile.
Besonders Begabte profitieren in hohem Maße von der Möglichkeiten einer verteilten Kognition mit der KI. Gerade leistungsstarke Hochbegabte beherrschen in aller Regel das Denken auf verschiedenen Ebenen sowie die Selbstbeobachtung ihrer Lernprozesse. Von diese Stärke profitieren sie nun durch einen besonders reflektierten Umgang mit der KI. Aber auch in Situationen des Underachievements, also im Falle von erwartungswidrig niedrigen Schulleistungen, können Tools wie ChatGPT ein Instrument sein, die Freude am Lernen und Leisten wieder zu wecken: hier kommen den Kindern ihre Experimentierfreude, Neugier und ihre Eleganz im Denken zugute. Durch die Nutzung von KI-Tools bauen sie Fähigkeiten der Selbstreflektion und Selbststeuerung weiter aus, und auch die Schulmotivation kann dadurch einen Schub erhalten!
3. KI-Tools individualisieren das Erlernen des Lernens.
Durch ihre kognitiven Stärken und hohe Merkfähigkeit fällt hochbegabten Kindern in den frühen Schuljahren vieles sehr leicht. Es fehlt oft an Herausforderungen und an Anlässen, das Lernen zu lernen. Wichtige Kompetenzen, die später fehlen können. KI-Tools können dazu beitragen, diesen Teufelskreislauf zu durchbrechen. ChatGPT generiert auf Knopfdruck Übungsaufgaben in unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen, schlägt auf Anweisung ganz unkonventionelle Lernmethoden vor, bezieht auch individuelle Lernvorlieben ein, ist geduldiger Feedback-Geber und sogar eloquenter Diskussionspartner. Auch wenn die KI kein Allheilmittel sein kann: Eltern können sie mit etwas Übung als Instrument nutzen, in Zeiten der Unterforderung oder der Schulmüdigkeit die Lernfreude ihrer Kinder neu zu befeuern.
Vieles, was hier für besonders begabte Schülerinnen und Schüler ausgeführt wird, gilt im Sinne einer inklusiven Bildung und eines breiten Verständnisses von Begabungsförderung natürlich für alle Kinder und Jugendlichen. „The rising tide lifts all boats“ – die Chancen für individuelle Förderung mit KI-Tools sind für alle Kinder in heterogenen Lernsettings nutzbar!
4. Kluge Kinder schummeln auch klug.
Auch besonders begabte Kinder spielen gerne, tüfteln, sind einfach mal faul und wollen die Seele baumeln lassen. Zugleich verfügen sie über ein hohes kreatives Potential. So besteht Grund zur Annahme, dass sie auch recht elegante Wege finden werden, sich mittels KI den langweiligeren schulischen Übungs- und Routineaufgaben zu entziehen. Das Schummeln mit KI, ja auch das werden sie vermutlich besonders gut beherrschen. Ältere Schülerinnen und Schüler werden auch Jailbreak Prompts austauschen und mit dem DAN (Do Anything Now)-Mode experimentieren. Neben den Lehrkräften sind daher auch Eltern gefragt, sich gemeinsam mit den Kindern aktiv mit KI-Tools wie ChatGPT zu befassen und deren Einsatz bewusst zu begleiten.
5. KI kann gesellschaftliches Engagement fördern.
„ChatGPT hilft mir, in die Materie einzudringen…“, so ein Schüler der 9. Klasse. Hochbegabte Kinder sind oft sehr vielseitig interessiert und ideenreich. Viele springen von einem Thema zum nächsten, verweilen jedoch nicht, nehmen sich nicht Zeit, ein Thema zu vertiefen. Sie experimentieren gerne, doch tun sich vielfach schwer beim Verschriftlichen der Ergebnisse. Und ganz unabhängig von interessensgeleitetem schulischen Enrichment würden sich viele Kinder auch gerne außerschulisch engagieren. Begabungsforscher und -forscherinnen wie Sally Reis oder auch Robert Sternberg nehmen gesellschaftliches Engagement bei Hochbegabten vermehrt in den Blick. Gerade in diesem Zusammenhang kann Sprach-KI wertvolle Unterstützung leisten, wenn es ums Durchdenken einer Projektidee oder etwa die Entwicklung eines stufenweisen Projektplans geht.
Wie verlässlich ist ChatGPT? Und was passiert mit meinen Daten?
Bei allem Optimismus: es hat zurecht eine breite gesellschaftliche Diskussion eingesetzt zu den Risiken von Sprach-KIs. Dass ChatGPT kein Wissen hat, kein Verständnis von der Welt und keinen Gütemaßstab für Wahrheit, dass seine Antworten oft fehlerhaft und verzerrt sind durch Bias in den Trainingsdaten und ethische Wertevorgaben, das ist bekannt. Es ist ein „ahnungsloser Universalgelehrter“ mit ungemein sicherem Auftreten.
=> ChatGPT „halluziniert“, Artwork by Midjourney/Aliens_Pulse
ChatGPT „halluziniert“ manchmal, erfindet frei, es produziert bisweilen mathematisch inkorrekte Lösungen und schwächelt ab und an in seiner Logik. Dass heute alle Nutzer-Eingaben und generierten Texte zugleich als Trainingsdaten und zur Weiterentwicklung der KI verwendet werden, führt zu heftiger Kritik bis hin zu generellen Verboten wie etwa in Italien. OpenAI reagierte, heute haben Nutzer die Option, sich dem Trainingsrückfluss zu entziehen. Im schulischen Kontext ermöglichen mittlerweile Anbieter wie SchuleGPT oder die Fobizz-KI einen gesicherten, DSGVO-konformen Zugang zur KI. Und Unternehmen wie das Heidelberger KI-Start-up Aleph Alpha arbeiten an großen infrastrukturellen KI-Lösungen für den europäischen Raum, mit dem Ziel der Unabhängigkeit von US-amerikanischen Cloud-Servern.
Angeregt durch die ethisch-didaktischen Überlegungen von Gabi Reimann an der Universität Hamburg müssen wir auch Fragen der Originalität, Moral, Verantwortung und Würde in den Blick nehmen – gemeinsam mit unseren Kindern. Was macht dich als Schülerin und Schüler aus? Was macht dich als Mensch aus? Wer soll bei Hausaufgaben und Prüfungen „on stage“ sein, du oder die KI? In diesem Zusammenhang betont auch der Deutsche Ethikrat in seiner Stellungnahme zu „Mensch und Maschine – Herausforderungen durch Künstliche Intelligenz“: Die Verantwortung für generierte Inhalte muss stets beim menschlichen Nutzer bleiben.
Neben ethischen Bedenken dürfen wir auch nicht den enormen Energieverbrauch und CO2-Ausstoß aus dem Blick verlieren, den die KI-Trainingsläufe und Anfragen von Abermillionen von Nutzern bereits heute verursachen.
Aber noch lange nicht menschlich, oder?
Bisher sahen wir Anwendungen im Bereich der sogenannten Schwachen KI. Beim leistungsstärkeren Nachfolgemodell GPT-4 jedoch spricht die Fachwelt heute bereits von „Sparks of AGI“, also vom Aufblitzen und den ersten Anzeichen einer Allgemeinen Künstlichen Intelligenz, einer sogenannten Starken KI. Und die aktuellen Anwendungsentwicklungen schreiten mit ungeheurer Geschwindigkeit voran. So hat etwa Microsoft – ebenfalls an OpenAI beteiligt - längst seine Office-Tools mit KI ausgestattet und hat erst kürzlich wieder mit Bildverarbeitungsmöglichkeiten im Rahmen von Visual ChatGPT nachgelegt. Bereits heute können Large Language Models über API-Anbindung individuell mit Firmendaten trainiert werden. So entstehen leistungsstarke firmeneigene ChatBots, während parallel die KI-gestützte App-Entwicklung global auf Hochtouren läuft. Künftig werden wir darüber hinaus Systeme sehen wie AutoGPT oder HuggingGPT. Dies sind sich selbstprogrammierende KIs und generative Agenten, die Schritt-für-Schritt denken, Aufgaben an sich selbst stellen, an Unteragenten delegieren und erledigen. Diese Modelle verschieben die Grenzen dessen, was mit Künstlicher Intelligenz bisher möglich war.
Wer sich für eine umfassende Sammlung aktueller KI-Tools und auch für Prompting-Hilfen außerhalb des Bildungskontextes interessiert, dem sei die Website futuretools.io hier sehr empfohlen.
Wird also jetzt alles gut? ChatGPT hat per Anfang 2023 schon weit über 100 Millionen Nutzer. Doch braucht es noch viel an Orientierung, Praxiserfahrung, Mut und Geduld im Einsatz mit der Sprach-KI, bis wir den erhofften Katapult-Effekt in der Begabtenförderung in der Breite wahrnehmen werden.
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Dipl.-Kffr. Barbara Saring ist Inhaber von ConfidentMinds, dem Münchner Institut für Begabtenförderung und (digitale) Lernstrategien, www.confidentminds.de. Als Specialist in Coaching the Gifted (ECHA) und Begabungspädagogin ist sie Expertin für Underachievement bei Hochbegabung und Mitbegründerin des „Münchner Zirkel Hochbegabung e.V.“.