Prävention von Underachievement
Eine duale Modellbetrachtung zu Motivation und Künstlicher Intelligenz
Beitrag erschienen im Tagungsband zum 11. Internationalen ÖZBF-Begabungskongress 2022, im Mai 2023.
1. Einführung
Hohe kognitive Begabungen zeigen sich – erwartungswidrig – oft nicht in entsprechend guter schulischer Leistung. Was weiß die Begabungsforschung und -förderung heute über die Faktoren, die in Schule und Familie eine Entstehung dieses „Underachievements“ begünstigen? Sind umgekehrt die Gelingensbedingungen bekannt für die Transformation von hohem Potenzial in sichtbaren Schulerfolg? Ausgehend von Del Siegles Modell der Leistungs-Orientierung (Achievement Orientation Model) werden im Beitrag grundlegende theoretische Zusammenhänge skizziert und Handlungsfelder aufgezeigt, die die Leistungsmotivation besonders begabter Schülerinnen und Schüler beeinflussen können. Aus der Perspektive langjähriger Beratungspraxis sowie unter Berücksichtigung neuer bildungsrelevanter Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz sollen hier Methoden in den Blick genommen werden, die dazu beitragen können, einer möglichen schulischen Minderleistung vorzubauen und die Leistungsmotivation besonders begabter Kinder zu wecken und zu fördern.
2. Das Phänomen Underachievement
Underachievement zählt zu den wohl belastendsten Phänomenen, mit denen hochbegabte Kinder, ihre Eltern und Lehrkräfte konfrontiert sein können. Nicht immer wird hohes kognitives Potenzial auch in überdurchschnittlicher Leistung sichtbar. Für den Begriff des Underachievements sind in der Literatur sehr unterschiedliche Definitionen zu finden; zumeist wird von einer Diskrepanz-Definition ausgegangen, und Underachievement wird beschrieben als „längerfristig andauernde negative Diskrepanz zwischen der intellektuellen Begabung (Potenzial) und den gezeigten Leistungen.“ (Preckel & Vock, 2013, S. 82).
Als Ursachen für dieses „Underachievement-Syndrom“ (Rimm, 2008) werden in der Literatur unter anderem die folgenden Faktoren identifiziert: „mangelnde Leistungs- und Lernmotivation, Desinteresse gegenüber unterrichtlichen Inhalten und dem schulischen Lernen allgemein, persönliche Einstellungen, Wissensvorsprung vor Mitschüler/innen, Unterforderung, Lernschwierigkeiten wie Konzentrationsschwächen oder Teilleistungsstörungen, fehlende Lern – und Arbeitstechniken, Schwierigkeiten in der Selbstregulation, …. soziokulturelle Bedingungen, ….“. (Greiten, 2021, S. 546)
Wir beobachten, dass in frühen Schuljahren hochbegabte Kinder ihre Aufgaben aufgrund ihres intellektuellen Vorsprungs meist ohne große Anstrengung bewältigen. Alles scheint ihnen zuzufliegen. Gleichzeitig jedoch bleibt ihnen über weite Strecken das Privileg verwehrt, sich mit Aufgaben auseinandersetzen zu dürfen, die sie subjektiv als schwer empfinden. Dadurch mangelt es ihnen an Gelegenheiten, Erfolgszuversicht aufzubauen und sich wichtige Lern- und Arbeitsstrategien anzueignen. Wenn später das schulische Anspruchsniveau steigt und Aufgaben nicht mehr wie gewohnt „mit Links“ erledigt werden können, verlieren viele besonders begabte Kinder das bisherige Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Plötzlich fehlen ihnen wichtige Lernstrategien, Arbeitsroutinen und Durchhaltetechniken. Gerade bei langjährig bestehendem Underachievement sehen wir zutiefst entmutigte Kinder und um Lösung ringende Eltern und Lehrkräfte. Es lohnt deshalb besonders, Überlegung anzustellen, wie diese ungünstige Entwicklung vermieden werden kann.
Welche Ursachenkomplexe auch immer zu einem Underachievement führen können, die Leistungsmotivation ist ein zentraler Faktor, wenn Begabungen sich in akademischen Leistungen zeigen sollen. Dieser Zusammenhang wird in nahezu allen bekannten Begabungsmodellen ganz explizit dargestellt, darunter im Drei-Ringe-Modell (Renzulli, 1986), im Triadischen Interdependenz-Modell (Mönks, 1995), im Münchner Hochbegabungsmodell (Heller, Perleth & Hany, 1994), im Differenzierten Begabungs- und Talentmodell (Gagné, 2018) oder im Ökologischen Begabungsmodell (Müller-Oppliger, 2017).
Kommen sie rechtzeitig zum Einsatz, sind traditionelle Maßnahmen der Begabungsförderung, wie Akzeleration, Enrichment, Pull-out-Programme oder Leistungsgruppierungen (Ziegler, 2018) durchaus geeignet, einem Underachievement entgegenzuwirken. In diesem Beitrag soll ergänzend dazu ein Modell in den Blick genommen werden, welches anschaulich und fundiert ganz gezielt die Faktoren der Leistungsmotivation in den Blick nimmt und damit einen wichtigen Orientierungsrahmen zur Prävention von Underachievement bieten kann.
3. Modell der Leistungs-Orientierung
Im Jahr 2005 veröffentlichten Del Siegle und D. Betsy McCoach, beide von der Neag School of Education an der University of Conneticut, einen viel beachteten Beitrag, „Making a Difference: Motivating Gifted Students Who Are Not Achieving“. (Siegle & McCoach, 2005) Später vertiefte Del Siegle in „The Underachieving Gifted Child. Recognizing, Understanding & Reversing Underachievement“ die angestellten Betrachtungen. (Siegle, 2013) Bestechend klar und eindringlich skizziert er in seinem Werk ein „Achievement Orientation Modell“, und zeigt darin auch konkrete Wege aus dem Underachievement auf. Sein Konzept stützt sich dabei auf umfangreiche Studien und jahrzehntelange Praxis zu diesem Phänomen. Es vereint motivationstheoretische Erkenntnisse unter anderem aus der Selbstwirksamkeits-Theorie (Bandura, 1977), der Attributionstheorie (Weiner, 1986), dem Erwartung-Wert-Modell (Eccles & Wigfield, 1995), dem Trifocal Model (Rimm, 2008) oder dem Growth Mindset Modell (Dweck, 2012).
Siegle und McCoach gehen davon aus, dass die Motivation von Schülerinnen und Schülern beeinflusst wird durch ihre Selbstwahrnehmung in mehreren Bereichen, und dass in der Folge dadurch auch ihre schulische Leistung mitbeeinflusst wird. Erfolgreiche Schüler*innen zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihr schulisches Leben als wert- und sinnvoll wahrnehmen (Sinnhaftigkeit). Sie haben Freude am schulischen Arbeiten oder am Ergebnis ihrer Arbeit. Motivierte Schüler*innen gehen des Weiteren davon aus, dass sie auch die Fähigkeiten und Fertigkeiten besitzen, um ihre Aufgaben mit Erfolg meistern zu können (Selbstwirksamkeit). Und schließlich haben sie Vertrauen in ihre Umwelt und glauben daran, in ihr erfolgreich sein zu können (Umwelt-Wahrnehmung). Die Ausprägung muss dabei nicht in allen drei Bereichen gleich stark, jedoch durchweg positiv sein. Schüler*innen mit diesen positiven Selbstwahrnehmungen und Einstellungen – so das Modell - werden in der Folge mit höherer Wahrscheinlichkeit realistische Erwartungen an sich selbst stellen, geeignete Strategien zur Erreichung ihrer Ziele einsetzen und ihr Verhalten entsprechend selbst steuern (Selbstregulierung).
Abbildung 1: Modell der Leistungs-Orientierung, Achievement Orientation Model (Siegle & McCoach, 2005) sowie (Siegle, 2013), eigene Übersetzung
Basierend auf diesem Modell schlagen Siegle und McCoach eine Vielzahl konkreter Maßnahmen vor, die die Motivationsspirale in Richtung akademischer Leistung in Gang setzen können. Es überzeugt dabei weniger der Neuigkeitsgrad der Methoden als vielmehr der Gesamtkontext, in dem sie sich zusammenfügen. Sie richten sich überwiegend an Lehrkräfte mit dem Ziel, ihren Schulunterricht begabungs- und motivationsförderlicher zu gestalten. Gelingt dies, wird quasi zeitgleich ein wichtiger Beitrag zur Prävention von Underachievement geleistet. Beim Studium der Maßnahmen zeigt sich, dass die vorgeschlagenen Wege auch für die elterliche Begleitung durchaus geeignet sind, um im außerschulischen Lernumfeld motivationsförderliche Rahmenbedingungen zu schaffen.
3.1. Zur Sinnhaftigkeit
Um schulische Aufgaben oder ihre Ergebnisse wertschätzen zu können und um die intrinsische Motivation zu fördern, sollen Aufgaben für die Schülerinnen und Schüler optimal herausfordernd sein und eine intellektuelle Stimulation beinhalten. Intellektuelle Stimulation kann etwa durch die Berücksichtigung der „5 Cs“ von Kanevsky und Keighley erreicht werden (Kanevsky & Keighley, 2003). Danach wünschen sich hochbegabte Schüler*innen CONTROL, Selbstbestimmung und viele Möglichkeiten, selbst wählen zu dürfen (CHOICES). Sie hoffen auf ein schnelleres und höheres Niveau des Denkens und auf Arbeitserfahrungen mit authentischen Inhalten (CHALLENGE). Sie wünschen sich Materialvielfalt und anspruchsvolle Prozesse, sowie Gestaltungsmöglichkeiten im professionellen Arbeitskontext (COMPLEXITY). Einfühlsame, warmherzige und engagierte (CARING) Lehrer stellen für die Autoren das mit Abstand wichtigste „C“ dar. Dieses kann sogar unzureichende Ausprägungen aller anderen vier „Cs“ kompensieren.
Die Sinnhaftigkeit von Aufgaben kann auch deutlich werden durch die Betonung der Nützlichkeit der Aufgabe. Den Lernenden kann aufgezeigt werden, dass ihre Arbeit auch dem Erreichen langfristiger Ziele, der persönlichen Entwicklung oder dem Gemeinwohl dient.
3.2. Zur Selbstwirksamkeit
Schülerinnen und Schüler sollen Vertrauen darin entwickeln, dass sie über die notwendigen Fähigkeiten verfügen, ihre Aufgaben zu meistern. Ihre Selbstwirksamkeitserwartung wird unter anderem beeinflusst durch früher erzielte Erfolge. Das Aufbewahren gelungener Arbeiten und Projekte, oder das Anlegen eines Schüler-Portfolios können persönliches Wachstum und individuelle Fortschritte sichtbar machen.
Für viele hochbegabte Kinder und Jugendliche stellt die Vermeidung von Anstrengung eine Form der Image-Pflege dar: „Ich hab‘s nur ganz schnell gemacht, habe gar nicht viel Zeit reingesteckt ...“ – auf diese Weise halten sie das Selbstbild des „begabten“ Kindes für sich aufrecht, dem alles leicht von der Hand geht. Wenn sie sich anstrengen müssten, fühlten sie sich plötzlich „dumm“, wie die anderen – so ihre Raison. Dann lieber Herausforderungen ganz vermeiden. Nach Siegle und McCoach ist es daher wesentlich, beim Loben hochbegabter Kinder die kritische Balance zu wahren zwischen der Anerkennung ihrer Fähigkeiten und der Betonung der Anstrengung, die mit der Entwicklung dieser Fähigkeit verbunden war. Durch dieses spezifische Feedback können sie ihr „Growth Mindset“ am besten weiterentwickeln.
3.3. Zur Umwelt-Wahrnehmung
Dass Schülerinnen und Schüler ihre Umwelt als freundlich, fair und hinsichtlich ihrer Anstrengungen und ihre Leistung positiv wahrnehmen, ist wesentlich für die Entwicklung von Motivation und Leistungs-Orientierung. Im anderen Falle werden sie davon ausgehen, dass sie - all ihrer Bemühungen zum Trotz – in diesem Umfeld nicht erfolgreich sein können. Oft sind beispielsweise Lehrkräfte mit hochbegabten Schülern in ihrer Klasse überfordert oder fühlen sich gar durch sie bedroht. Die Schüler passen sich dann häufig an eine, in ihren Augen nicht-intellektuelle, Umwelt nach unten an; ihre „Unmotiviertheit“ wird zur Coping-Strategie. Offene Eltern-Lehrer-Schüler-Gespräche können hier helfen, und die Schüler können lernen, mit unterschiedlichen Sichtweisen umzugehen. Wann ist etwa der Kampf in eigener Sache wichtig, wann kann ein Kompromiss den eigenen Interessen besser dienen, und wann kann einfaches Ignorieren die klügere Wahl sein.
3.4. Zur Selbstregulierung
Die Entwicklung geeigneter Lern- und Arbeitsstrategien trägt maßgeblich dazu bei, schulische Aufgaben erfüllen und Leistung demonstrieren zu können. Auf Basis des Drei-Schichten-Modells von Boekaert (Boekaert, 1999) können dabei drei Arten von Lernstrategien unterschieden werden: Die kognitiven Strategien der Informationsverarbeitung und -speicherung, metakognitive Planungs- und Kontrollstrategien und motivational-volitionale Strategien zur Selbstmotivation und Selbstberuhigung. (u.a. Weinstein & Mayer, 1986) Auch der hochbegabte Schüler benötigt zum Erfolg irgendwann ganz klassische Arbeitsstrategien, das Setzen von Nah- und Fernzielen, eine Lernzeitplanung und Arbeitsorganisation, Methoden des Notizennehmens, der Textanalyse, der Gedächtnistechniken sowie – unverzichtbar - Methoden der Selbstmotivation und Selbststeuerung. Das Erlernen dieser Skills gelingt umso leichter, wenn dies im Kontext herausfordernder Aufgaben geschieht.
Es existiert nicht das eine perfekte Programm, welches auf jeden Lernenden passt und welches die Entstehung eines Underachievements verhindern kann. Das hier vorgestellte Modell der Leistungs-Orientierung offeriert jedoch einen klaren konzeptionellen Rahmen für die Förderung schulischer Motivation und Leistung. Es bietet darüber hinaus ein breites Spektrum erprobter Strategien, die dabei helfen, das Selbstkonzept der Kinder zu stärken, Leistungsfreude zu entwickeln, diese zu erhalten und so einem potenziellen Underachievement entgegenzuwirken.
4. Neuer Faktor Künstliche Intelligenz
4.1. Die Sprach-KI ChatGPT
Seit Veröffentlichung der Sprach-KI ChatGPT aus dem Hause OpenAI, siehe chat.openai.com, überschlagen sich die Ereignisse in Bildung, Wirtschaft und Gesellschaft. Seit November 2022 erleben wir eine enorme Disruption und werden Zeuge eines grundlegenden technologischen Wandels. Das auf künstlicher Intelligenz basierende ChatGPT schreibt, kürzt und überarbeitet Texte, macht Hausaufgaben, korrigiert Programmier-Codes, besteht Jura-Examen, den Turing Test und empfiehlt sich als Effizienz-Booster für die Arbeitswelt.
KI-Anwendungen sind durchaus nichts Neues. Doch mit ChatGPT wurde Künstliche Intelligenz erstmals niederschwellig und in der Breite zugänglich. Darf man von einer Technologie, die vermutlich fundamental ändern wird, wie wir lernen, arbeiten und leben auch erwarten, die Förderung von Begabungen auf neue Füße zu stellen? Im Folgenden hierzu einige Überlegungen im Kontext der schulischen Begabtenförderung und der Prävention von Underachievement.
4.2. Ändert sich jetzt unser Anspruch an Bildung?
Im besten Falle wird unser Schulsystem jetzt neu gedacht. Während zunächst die Reaktionen in der Bildungslandschaft von der Sorge um Täuschungs- und Betrugsversuche bestimmt waren, werden die neuen KI-Tools mittlerweile zum Anlass genommen für grundlegende Reflexionen über unser Bildungssystem. Im Minimalfall bedeutet dies ein Überdenken der aktuellen Prüfungskultur mit Veränderungen in Richtung neuer, anspruchsvollerer Prüfungsformate. Die KI und ihre Anwendungsmöglichkeiten haben jedoch auch das Potential, zu einem größeren Katapult zu werden: weg vom gleichgeschalteten 7-G-Lernen (alle gleichaltrigen Kinder lernen mit den gleichen Zielen und gleichen Methoden bei der gleichen Lehrkraft am gleichen Ort im gleichen Tempo die gleichen Inhalte), hin zu mehr Bildungsgerechtigkeit und individualisierterem Lernen. Von dieser Entwicklung werden auch die besonders begabten Schülerinnen und Schüler profitieren dürfen.
4.3. Durchbruch in der Begabtenförderung?
Der Einsatz von KI-Tools wie ChatGPT kann unter anderem dabei helfen, individuell passendere und auch herausfordernde Lernerfahrungen zu gestalten. KI könnte ein Booster für die Hochbegabten-Förderung werden. Ist dem wirklich so?
Der große Psychologe und Begabungsforscher Franz Emanuel Weinert formulierte treffend fünf Aspekte, durch die sich das Lernverhalten besonders Begabter von dem anderer unterscheidet: (1) Begabte verarbeiten neue Informationen mit größerer Geschwindigkeit, (2) sie zeichnen sich aus durch die Tiefe und Höhe des Verständnisses für neue Begriffen oder Prinzipien, (3) sie haben ausgeprägte metakognitive Fähigkeiten, (4) ihr Wissen ist in der Regel intelligent vernetzt und (5) sie verfügen meist über hohe kreative Fähigkeiten der Problemlösung. (Weinert, 2000) Für die Nutzung von KI-Tools hat dies Implikationen in dreierlei Hinsicht: Ihre Lernbesonderheiten befähigen hochbegabte Kinder in besonderer Weise, die neuen KI-Tools reflektiert und klug für ihre Zwecke zu nutzen und das Potential dieser kognitiven Werkzeuge wirklich voll auszuschöpfen. Zugleich befriedigt die Nutzung der Tools wiederum genau jene Bedürfnisse nach Geschwindigkeit, Komplexität, Selbststeuerung und Kreativität. Im Nutzungsprozess selbst werden zeitgleich genau diese analytischen, kreativen und metakognitiven Stärken weiter ausgebaut!
Bei allen Hoffnungen, die in die Künstliche Intelligenz gesetzt werden, werden parallel auch mahnende Stimmen globaler KI-Koryphäen wie Geoffrey Hinton (KI-Pionier bei Google) und vieler Unternehmenslenker laut. Spätestens seit Frühjahr 2023 hat auch ein in der Breite der Gesellschaft geführter Diskurs begonnen, der die Risiken und ethischen Bedenken in Zusammenhang mit aktuellen KI-Entwicklungen adressiert. Zugleich sehen wir intensive, wertebasierte Diskussionen zur Hochschuldidaktik (u.a. Reimann, 2023). Auch der Deutsche Ethikrat sah sich berufen, in einer Stellungnahme die Auswirkungen digitaler Technologien auf das menschliche Selbstverständnis und Miteinander zu bewerten. (Deutscher Ethikrat, 2023) Die Sorge vieler gilt vor allem der Unberechenbarkeit, mit der sich eine menschenähnliche AGI, eine Artificial General Intelligence, in der Folge auch eine übermenschliche „Superintelligenz“, rasant weiterentwickelt, bis hin zu autonom agierenden „KI-Agenten“, deren genaue Funktionsweise sich auch ihren Schöpfern nicht mehr vollständig erschließt und – laut Stanfordprofessor Kosinski – mit einer eigenen „Theory of Mind“ aufwarten. (Kosinksi, 2023)
4.4. Fünf Thesen zu KI und Begabtenförderung
Nach Monaten intensiver Testung von ChatGPT durch die Autorin ergeben sich Stand Mai 2023 erste fünf Thesen zum Einsatz von KI in der Begabtenförderung:
1) Kognitive Stärke und Wissensvorsprünge begünstigen die intelligente KI-Nutzung.
Bei ersten spielerischen Versuchen mit der KI bleibt der Output häufig hinter den Erwartungen zurück. Man ist noch nicht vertraut mit wichtigen Prompt-Techniken und verfeinert seine Anweisungen nicht oder nur unzureichend. In der Folge sehen viele Lernende die Vorteile für ihren Lern- und Arbeitsprozess nicht und verwerfen ChatGPT als wenig nutzbringend.
Hochbegabte hingegen verfügen über die analytischen und kreativen Fähigkeiten, nach erster Experimentierphase rasch, zielführend und mündig mit der Sprach-KI umzugehen. Sie sagen beispielsweise: „Das Output-Format gefällt mir noch nicht.“ „Da fehlt doch noch was.“ „Ich probiere mal ‚Regenerate Response‘!“
KI kann neue Wege für die Begabtenförderung eröffnen und zu einem relevanten Baustein in der Leistungsförderung werden. Ein Selbstläufer ist dies indes nicht. Wichtige Gelingensbedingung ist, begabte junge Menschen nun im Umgang mit der (Sprach-)KI sorgfältig zu schulen. Prompt Engineering und Crafting wird ein Future Skill, der sie befähigt, ihre Anweisungen an die KI, die Prompts, zielgenau zu formulieren. In einem weiteren Schritt werden sich diese Skills in Bildung und Beruf auch beziehen auf den reflektierten, selektiven Umgang mit KI-Tool-Sammlungen wie z.B. futuretools.io und die kluge Auswahl und Nutzung von KI-Browser-Extensions und KI-Plugins.
Abbildung 2: Prompt Guide für ChatGPT, Grafik MagicCake by Midjourney/Ed Haas, eigene Darstellung
2) Meta-Ebenen-Denken bringt Hochbegabten Vorteile.
Besonders begabte Kinder profitieren in hohem Maße von den Möglichkeiten einer „verteilten Kognition“ mit der KI. Das Konzept geht auf Edwin Hutchins zurück, der in seinem Werk „Cognition in the Wild“ schon 1995 darlegte, wie es eine „externe kognitive Hilfe“ der menschlichen Kognition ermöglicht, sich weiterzuentwickeln - auch über die individuellen Fähigkeiten hinaus. Gerade leistungsstarke Hochbegabte beherrschen in aller Regel das Denken auf verschiedenen Ebenen sowie die Selbstbeobachtung ihrer Lernprozesse. Von dieser Stärke profitieren sie nun durch einen besonders reflektierten Umgang mit der KI. Aber auch in Situationen des Underachievements können Tools wie ChatGPT ein Instrument darstellen, mit dem die Freude am Lernen und Leisten wieder geweckt wird: hier kommen den Kindern ihre Experimentierfreude, Neugier und ihre Eleganz des Denkens zugute. Durch die Nutzung von KI-Tools bauen sie zudem ihre Fähigkeiten der Selbstreflektion und Selbststeuerung weiter aus, und auch die Schulmotivation kann dadurch einen Schub erhalten!
3) KI-Tools individualisieren das Erlernen des Lernens.
Durch ihre kognitiven Stärken und hohe Merkfähigkeit fällt hochbegabten Kindern in den frühen Schuljahren vieles sehr leicht. Es fehlt oft an Herausforderungen und an Anlässen, das Lernen zu lernen. Wichtige Kompetenzen, die später fehlen können. KI-Tools können dazu beitragen, diesen Teufelskreislauf zu durchbrechen. ChatGPT generiert auf Knopfdruck Übungsaufgaben in unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen, schlägt auf Anweisung ganz unkonventionelle Lernmethoden vor, bezieht auch individuelle Lernvorlieben ein, ist geduldiger Feedback-Geber und sogar eloquenter Diskussionspartner. Auch wenn die KI kein Allheilmittel sein kann: Eltern können sie mit etwas Übung als Instrument nutzen, in Zeiten der Unterforderung oder der Schulmüdigkeit die Lernfreude ihrer Kinder neu zu befeuern.
Vieles, was hier für besonders begabte Schülerinnen und Schüler ausgeführt wird, gilt im Sinne einer inklusiven Bildung und eines breiten Verständnisses von Begabungsförderung natürlich für alle Kinder und Jugendlichen. Ganz im Sinne von „The rising tide lifts all ships“ (Renzulli, 1998), sollen die Chancen auf individuelle Förderung mit KI-Tools selbstredend für alle Kinder in heterogenen Lernsettings nutzbar werden.
4) Kluge Kinder schummeln auch klug.
Auch besonders begabte Kinder spielen gerne, tüfteln, sind einfach mal faul und wollen die Seele baumeln lassen. Zugleich verfügen sie über ein hohes kreatives Potential. So besteht Grund zur Annahme, dass sie auch recht elegante Wege finden werden, sich mittels KI den langweiligeren schulischen Übungs- und Routineaufgaben zu entziehen. Das Schummeln mit KI, ja auch das werden sie vermutlich besonders gut beherrschen. Ältere Schülerinnen und Schüler werden auch Jailbreak Prompts austauschen und mit dem DAN (Do Anything Now)-Mode experimentieren. Neben den Lehrkräften sind daher auch Eltern gefragt, sich gemeinsam mit den Kindern aktiv mit KI-Tools wie ChatGPT zu befassen und deren Einsatz bewusst zu begleiten.
5) KI kann gesellschaftliches Engagement fördern.
„ChatGPT hilft mir, in die Materie einzudringen…“, so ein 9.-Klässler während eines Praxiskurses zu ChatGPT. Hochbegabte Kinder sind oft vielseitig interessiert und ideenreich. Viele springen von einem Thema zum nächsten, verweilen jedoch nicht, nehmen sich nicht Zeit, ein Thema weiter zu vertiefen. Sie experimentieren gerne, doch tun sich oft schwer beim Verschriftlichen der Ergebnisse. Und ganz unabhängig von einem interessensgeleitete schulischen Enrichment würden sich viele Kinder auch gerne außerschulisch für den guten Zweck engagieren. Begabungsforscher wie Robert Sternberg (Sternberg, 2019) nehmen das gesellschaftliche Engagement bei Hochbegabten vermehrt in den Blick. Gerade in diesem Zusammenhang kann Sprach-KI wertvolle Unterstützung leisten, wenn es ums Durchdenken einer Projektidee oder etwa die Entwicklung eines stufenweisen Projektplans geht. Künstliche Intelligenz kann als kognitives Werkzeug auf diesem Wege auch zu einer Stütze auf dem Weg zu höherer Leistungsmotivation werden.
5. Zusammenfassung und Ausblick
Der Beitrag stellte eine duale Modellbetrachtung an und beleuchtete zwei Ansätze für die Prävention von Underachievement bei hochbegabten Kindern und Jugendlichen. Ausgangspunkt war in einem ersten Schritt das Modell der Leistungs-Orientierung von Siegle und McCoach, ein wissenschaftlich fundiertes Konzept, das die Einflussfaktoren auf schulische Leistungsmotivation anschaulich visualisiert. Es kann an dieser Stelle empfohlen werden, das Modell als Bezugsrahmen heranzuziehen, um gezielt motivations- und damit auch leistungsförderliche Lernumgebungen für hochbegabte Kinder zu gestalten, und so das Risiko eines Underachievements zu verringern.
In einer zweiten Betrachtung wurden die Möglichkeiten exploriert, wie sich Begabungs- und Begabtenförderung mithilfe von Künstlicher Intelligenz weiterentwickeln lassen. Es wurden fünf erste Thesen zu KI und Begabtenförderung formuliert und Ideen entwickelt, wie die Nutzung von (Sprach-)KIs einen Beitrag leisten können, die Lern- und Leistungsmotivation bei hochbegabten Schülerinnen und Schülern zu fördern. Es wird empfohlen, hochbegabte Kinder gezielt zu fördern im reflektierten und klugen Umgang mit KI-Tools. Gelingt dies, haben jene in der Begleitung begabter Kinder eine vielversprechende Chance ergriffen, leistungsförderliche Rahmenbedingungen für hohes kognitives Potenzial zu gestalten.
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